Emma

Als Emma in die Winterluft trat, war es schon fast Abend. Die Dämmerung hatte sich wie immer viel zu früh über die Straßen gelegt, der Frost kletterte die Laternen hoch, Eiszapfen ragten wie Speere ins Nichts. Emma eilte mit eingezogenem Kopf die Straße hinunter, kam zum Waldeingang, zögerte kurz, lief nach rechts. Abstand. Sie brauchte Abstand. Während sie ihre Hände tief in den Manteltaschen vergrub und gedankenverloren ihren Haustürschlüssel umfasste – am liebsten hätte sie ihn in die Büsche geschmissen -, folgte sie dem immer schmaler werdenden Pfad, der sich schon bald um vereinzelte Altbauten schlängeln würde. Wie konnte so etwas nur immer wieder passieren?

Resigniert seufzte sie, ihr Atem stieß kleine Wölkchen aus. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, überraschte es sie, dass sie es nicht hatte kommen sehen. Es war doch ohnehin jedes Jahr das gleiche. Seit Herbstbeginn wurde im Haus ihrer Mutter über den Heiligen Abend gesprochen, akribisch geplant, was gekocht werden würde und von wem, wer Oma Anne aus dem Seniorenheim holte, ob Andreas wie jedes Jahr in die Kirche ging. Wenn man als Außenstehender zuhörte, könnte man fast meinen, dass das Weihnachtsfest bei ihnen den kitschigen amerikanischen Filmen glich, wie ein idyllisches Stillleben, nett anzuschauen, aber ohne Substanz. Doch so war es nicht. So war es nie. Jedes Mal, wenn man Emma fragte, was sie sich zu Weihnachten wünschte, würde sie gerne Kein Weihnachtsfest wie letztes Jahr antworten, aber etwas in ihr hielt sie immer zurück; sie wusste, dass es sich nicht würde ändern lassen. So sehr sie alle sich jedes Jahr anstrengten, dass die Besinnlichkeit und Freude Zuhause überwog, so sehr sie auch versuchten, sich in diesen gesellschaftlichen Stempel der glücklichen Kleinfamilie zu pressen, so war doch für sie, für sie alle, am Ende des Tages der Schmerz über das Vergangene ein Teil des emotionalen Weihnachtsbuffets. Und wie jedes Jahr, ganz gleich, wie sehr Emma sich der Feierlichkeit hingeben konnte, meldete sich in einem stillen Augenblick wieder ihr vaterloses, noch immer schmerzendes Herz wie ein alter Freund, den sie gerne vergessen würde.

Je mehr Meter sie zwischen sich und Zuhause brachte, desto ruhiger und tiefer atmete sie. Inzwischen war es so duster geworden, dass die Umrisse der fröstelnden Bäume kaum noch zu erkennen waren, aber die Fenster der Häuschen, die sich am Wegrand verteilten, spendeten warmes Licht. Verstohlen lugte sie hinein. Hier sangen Kinder vor dem Weihnachtsbaum, dort tischte man eine gefährlich verbrannte Gans auf, da drüben stritt sich ein Ehepaar. Emma schmunzelte.

Seit ihr Vater aus dem Haus geklagt worden war, stritt man sich nicht mehr. Zumindest nicht an Heiligabend. Dafür blieb eine Leere zurück, von der man zwar froh war, dass sie seinen Platz eingenommen hatte, aber die trotzdem leise wehtat. Sie spürten sie nur, wenn sie daran erinnert wurden, dass sie da war, und bisher hatte ihr Vater es nie versäumt, dies zu tun.

Man konnte die Uhr danach stellen. Gegen halb eins mussten die Hunde raus, ein letztes Mal vor der Bescherung, die Tür wurde geöffnet, ihr Bruder erstarrte. Vor der Schwelle ruhte ein Paket, groß, in buntes Geschenkpapier gewickelt. Hundeleinen wurden losgelassen, das Paket festgehalten. Aufs Sofa gestellt. Behutsam geöffnet. Darin: Erdnüsse, kleine Lebkuchen, Geschenke, quadratisch und mit Schleife verziert. Für sie alle, ihre Mutter, ihren Bruder, sie, sogar Andreas, obwohl ihr Vater ihn kaum kannte. Oben auf, eine Karte. Meine lieben Kinder, euer Papa wünscht ein frohes Fest. Ich bin stehts für euch da. Ich liebe euch. Dann brachen alle Dämme.

Die Kälte stach Emma in die Wangen, ihr Schritt beschleunigte sich. Sie spürte ihren Bruder wieder in ihren Armen liegen, laut schluchzend, die Flut seiner Tränen, ihrer Tränen, überspülte sie. Die Schuld in Anbetracht der Ungewissheit, ob er allein sein würde an diesem Festtag, überwog fast die Trauer um das, was gewesen war – nein, um das, was hätte sein können, vielleicht, wenn ihre Eltern ein bisschen glücklicher und ein bisschen weniger kaputt gewesen wären. Auch jetzt, auf dem schmalen Pfad, zwischen den Häuschen, flammte der Schmerz wieder auf in ihr, seine Glut versengte ihre eisigen Glieder, die Tränen vertrieben den Frost von ihrem Gesicht. Sie hatte ihren Vater seit neun Monaten nicht gesehen. Kein Anruf, vereinzelte Nachrichten zwischendurch, wie es ihr ginge, ob sie sich von Andreas getrennt habe, er vermisse sie so sehr. Wenn sie reagierte, gab es keine Antwort. Inzwischen wollte sie, dass er nicht mehr schrieb.

Sie wusste, wenn sie morgen bei Andreas´ Eltern sein würden, würde es anders sein. Seine Mutter würde gemeinsam mit dem Jüngsten den Baum schmücken, den der Vater geschlagen hatte. Alle Großeltern würden da sein, es würde ein Festmahl geben, danach Diashows der beiden Jungs, als sie noch klein waren, Videoaufnahmen vom letzten Urlaub, einen kleinen Film aus dem Sommer 2004, in dem Andreas, damals drei, quietschvergnügt durch den Rasensprenger hüpfte. Andreas würde beschämt grinsen, einen Arm um sie legen, ihr einen Kuss auf die Stirn geben. Kein Zorn, keine Traurigkeit. Maßvolles Glück. Für sie: Hoffnung auf das, was möglich war.

In ihrer Hosentasche vibrierte es. Das Telefon. Andreas. Sie kehrte auf dem Absatz um, eilte den Weg entlang zurück. Plötzlich fühlte sie sich schlecht, dass sie ihn allein in diesen Chaos zurückgelassen hatte. Sie hob ab, stammelte keuchend in den Hörer, sie würde gleich zurück sein. „Lass dir Zeit“, sagte Andreas ruhig. „Bis gleich.“ Sie schob das Handy wieder in ihre Tasche zurück, ihr Herz hüpfte ein bisschen. Wohlige Wärme breitete sich in ihr aus. Sie lächelte. „Frohe Weihnachten, Emma.“

© Angelina Jungmann 2021

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