Sternenmama

Triggerwarnung: Tod, stille Geburt


Stumm stehe ich vor dem dampfgetrübten Spiegel, streiche mir eine Strähne meines immer grauer werdenden Haars aus der Stirn und werde mir der Tatsache, dass ich trotz hartnäckigen Waschens nie wieder den bitter-süßen Nachgeschmack der sieben Buchstaben, die "Leb wohl!" nun einmal hat, von meiner Seele würde spülen können, schmerzlich bewusst. Unverwandt mustern mich zwei grüne Augen aus dem nebligen Glas vor mir, so, als wäre ich eine Fremde, welche sie noch nie zuvor gesehen, aber trotzdem wiedererkannt haben. 

Ich höre, wie mit einem Klicken die Badezimmertür geöffnet wird, und spüre sogleich, wie sich starke Arme um mich legen. "Wie fühlst du dich?", fragst du, dein Kopf auf meiner Schulter ruhend, dein Gesicht an meinem. "Ich weiß es nicht." Ich zucke mit den Achseln. Behutsam lässt du deine Hände auf meinen Bauch wandern, die Stelle, welche in den letzten Monaten das Zentrum unserer Welt gewesen ist. Hin und wieder kann ich es noch immer in mir spüren, unmittelbar unter meinem Herzen: Leichtes, kleines Pochen, Füße und Hände, die mich grüßen. "Hallo, Mama. Ich bin da." Doch nun fühlt es sich so schrecklich leer an. Ich schenke dir im Spiegel ein lebloses Lächeln. "Wir hätten nichts mehr für es tun können." Du stößt die Worte von dir, als hätten sie sich schon viel zu lang an dich geklammert, abscheulich, unerwünscht. "Es". Du presst das Wort zwischen deinen Zähnen hervor, als wäre es nicht unser Baby, sondern ein heimtückisches Monster, dessen Bestimmung es gewesen ist, unser Leben zu zerstören.

Ich schließe die Augen und sehe wieder den schwarzen Sarg vor mir. Er ist aus edlem Holz geschreinert und unendlich klein gewesen, so klein, dass er niemals ein Sarg hätte sein dürfen - vor allem nicht für mein Kind. In leidvoll lauten Lettern hat sein Name kursiv auf dem Band des Trauerkranzes geprangt, gut auf böse, weiß auf schwarz. Viele Gäste, tränenüberströmt und entsetzt, ich unter ihnen, regungslos. 

 

Für eine Weile stehen wir dort und betrachten die Frau vor uns. Instinktiv weiß ich, dass du jemand anderen siehst als ich. Viel zu schnell ist in den vergangenen Tagen aus unserem "Ich liebe dich" ein "Ich brauche eine Pause!" geworden. Wir lassen uns zu Boden sinken. Der lange Kampf um Leben und Tod hat uns erschöpft und ausgelaugt. Dabei ist es von Anfang an nicht leicht für uns gewesen. Jahrelang hatten wir es versucht, die Hoffnung insgeheim längst aufgegeben, weil "Unfruchtbarkeit" letztendlich keine relative Diagnose war. Dann, nach tausend Tagen Beten, der Besuch beim Frauenarzt: Schwanger. Man warnte uns vor, es würde nicht leicht werden für unser Kind, doch das war uns egal, wir schwebten über den Wolken, getragen von irrationalem Wahnsinn. Die Wochen vergingen, mein Bauch wuchs stetig, und mit ihm auch die Zweifel. Tag für Tag wurde die ernste Mine des behandelnden Arztes besorgniserregender. Dann, in der 21. Woche, die Wehen. Der Weg in die Notaufnahme.  Geschockte Gesichter, panische Krankenschwestern. Geburt einleiten, sofort. Nach wenigen Stunden war es vorbei, unser Kind geboren. Sobald die Amme es auf dem Arm hielt und den Doktor vielsagend anschaute, schnürte sich mir die Kehle zu. Nein, es war so falsch, so unendlich falsch, das Kind war viel zu klein, gehörte es doch noch für eine weitere Ewigkeit in meinen Bauch und nicht in diese viel zu große Welt, in der es keine Chance auf Leben hatte. Für einen Augenblick lang war ich Mutter, hielt das winzige Bündel in meinen Armen, sein Puls eine tickende Zeitbombe, ein Countdown, bevor sein Herz endgültig versagte. 

Wir schweigen beide. Es ist erschreckend, wie deutlich sich ein einziger Augenblick in den Augen eines Menschen widerspiegeln kann. Wie man sich von jetzt auf gleich so leblos fühlen kann, obwohl man zuvor noch für zwei zu Leben versucht hat. Ich frage mich, wie lange ich noch diesen Schmerz ertragen kann, bevor er mich zerfrisst. Du merkst, dass du im Augenblick von mir nicht mehr bekommen kannst als eisernes Schweigen, und gehst. Ich bleibe auf dem Badezimmerboden zurück, betrachte im Spiegel die fremde, grünäugige Frau mit dem flachen Bauch. "Komm zurück.", flüstere ich, "Komm zurück."

 © Angelina Jungmann, 2018